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Eine Gesundheitspolitik - ganzheitlich, generationengerecht, zukunftsfähig

Das gesundheitspolitische Positionspapier für die Akteure der deutschen Gesundheitspolitik, verfasst von der Denkschmiede Gesundheit gemeinsam mit der Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen in Zusammenarbeit mit weiteren jungen Organisationen und Initiativen

Inhaltsverzeichnis

1. Einführung

Ausrichtung und Inhalte des Positionspapiers

Um ihren Interessen Ausdruck zu verleihen, ist für junge Menschen der Eintritt in eine Partei selten das erste Mittel der Wahl. Die Art der jeweils jungen Generation Mitbestimmung zu erreichen, hat sich über Jahrzehnte situationsbedingt kontinuierlich verändert. Doch von der uns oft vorgeworfenen Politikverdrossenheit spüren wir wenig, auch wenn wir uns den politischen Parteien nicht immer zugehörig fühlen. Wir, als Interessenvertreter der jungen Generation in der Gesundheitspolitik, stellen unsere Forderungen unabhängig von Parteiprogrammen zusammen und präsentieren unsere fachlichen, politischen Forderungen für die gesundheitspolitische Zukunft Deutschlands in dem vor-liegenden Positionspapier zusammen.
Die Politik sollte sich darum sorgen, dass wir, die jungen Menschen in Deutschland in Zukunft gerne leben und nicht nur physisch, sondern auch mental gesund bleiben. Nicht nur weil die Gesundheit der Bürger*innen sowieso Ziel staatlichen Handelns sein sollte, sondern auch im eigenen Interesse, da wir als Steuer- und Beitragszahler ab 2035 eine ungleich größere Zahl von Rentner*innen gegenüberstehen. Wir betrachten es als unsere Aufgabe, unsere Bedürfnisse effektiv in Gesundheitspolitik und Gestaltung des Gesundheitswesens einfließen zu lassen. Es geht uns dabei um mehr als reine gesundheitsökonomische Kostenfolgeabschätzung. Uns beschäftigt die Frage, wie eine generatio-nengerechte Demokratie und ein zukunftsfähiges Gesundheitswesen erreicht werden können. Wir sind überzeugt, dass diese Zukunftsfragen nur durch Kooperationen mit den „Alten Hasen” nachhaltig angegangen und Lösungsvorschläge umgesetzt werden können. Das breit gefächerte Netzwerk der an diesem Positionspapier beteiligten Organisationen garantiert die Einbeziehung einer großen Zahl junger, fachlich spezialisierter Menschen.
Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen und die Denkschmiede Gesundheit sprechen sich für eine konstruktive und fachliche Zusammenarbeit der Generationen aus. Erfahrene Politiker und Selbstverwalter des Gesundheitssystems sollten enger mit jungen Menschen aller Fachrichtungen und Lebenssituationen in Organisationen zusammenarbeiten. Wir fordern eine Zusammenarbeit auf Augenhöhe zwischen den Generationen und eine Einbezie-hung unserer Anliegen in gesundheitspolitische Entscheidungsprozesse.

2. Generationengerechtes Gesundheits- und Pflegesystem

EIN KAPITEL DER DENKSCHMIEDE GESUNDHEIT

 

Bereits im Jahr 2030 müssen 1,4 Beitragszahler*innen eine*n Rentner*in finanzieren, bislang war das Verhältnis 1,7 zu 1 [1]. Für die Gesundheits- und Pflegesysteme ist Ähnliches zu erwarten, denn 2035 werden wir (bei unverändertem Gesundheitszustand) mit unseren Beiträgen die Leistungen für über vier Millionen Pflegebedürftige finanzieren müssen, Ende 2015 waren es noch 2,8 Millionen [2].
Das deutsche Solidarsystem der gesetzlichen Kranken- und Pflegeversicherung macht unser System gerecht, belastbar und stark. Doch angesichts des demografischen Wandels ist das umlagefinanzierte System [3] im Vergleich zum kapitalgedeckten System [4] der privaten Kranken- und Pflegeversicherung bald nicht mehr generationengerecht. Denn die Kinder der Babyboomer müssen mit ihren Beiträgen viel mehr stemmen als andere Generationen und mehr einbringen, als sie voraussichtlich selbst zur Verfügung haben werden. Da wir, die junge Generation, das Solidarprinzip nicht grundsätzlich in Frage stellen, denken wir stattdessen über kurzfristige Hilfsmaßnahmen nach, die uns in der kritischen Zeit absichern und die unsere hohen Sozialabgaben von bis zu knapp 40 Prozent nicht noch weiter steigen lassen (siehe Koalitionsvertrag 2018, S. 56).
Die Pflegeversicherung folgt einem Teilleistungsprinzip, da sie mit dem Grundgedanken eingeführt wurde, die Sozialhilfe zu entlasten [5]. Sie trägt aktuell nur einen fixen Anteil der Kosten; was darüber hinausgeht, zahlen die Versicherten selbst. Diese Systematik wird derzeit grundlegend hinterfragt, es wird über eine Umwandlung in eine „echte Teilkasko“ gesprochen, also über einen festen, maximalen Beitrag des Versicherten und eine Deckung aller weiteren Kosten durch die Versicherung. So einig sich die Akteure über den Änderungsbedarf sind, so sehr fehlen zuverlässige, über die im Rothgang-Gutachten [6] hinausgehende Kostenfolgenschätzungen. Wir, als Vertreter*innen der jungen Generation, fordern eine bis ins letzte Detail ausgearbeitete Prognose der Kosten, die uns mit einer Pflegeversicherungs-Reform langfristig erwarten. Denn Fakt ist, dass die Leistungsausgaben der Krankenversicherung kontinuierlich und im Falle der Pflegeversicherung in den vergangenen Jahren besonders stark gestiegen sind, was zu großen Beitragssatzerhöhungen geführt hat (Mehrausgaben von fast 20 Mrd. Euro in 10 Jahren [7]). Grundlegende Reformen als Schnellschuss sind Gift für die Funktionsfähigkeit unserer Sozialsysteme. Bis wir mehr Klarheit über die Reformvorschläge haben und diese keine unverhältnismäßigen weiteren Ausgaben mit sich bringen, brauchen wir neben den Beitragszahlungen für die Versicherungen eine stärkere private Vorsorge.
Nicht nur die Versicherten bzw. Pflegebedürftigen sollten stärker vorsorgen, sondern auch der Staat. Wir fordern neue Steuern für Tabak, besonders stark zucker- oder salzhaltige Lebensmittel und Alkohol. Diese Steuern werden direkt in einen generationenspezifischen Vorsorgefonds [8] eingezahlt, der an den Gesundheitsfonds angeschlossen ist, und ab 2035 kontinuierlich durch die Bundesbank im Auftrag des Bundesversicherungsamts (BVA) und des Bundesgesundheitsministeriums (BMG) ausgeschüttet wird. Je nach demografischer Entwicklung könnten diese zusätzlichen Fonds auch weiterhin generationenspezifisch angespart und ausgeschüttet werden. So könnten die Beitragssätze generati-onengerechter gestaltet werden, da gesundheitsschädigendes Verhalten im späteren Lebensverlauf teure Erkrankungen verursacht und dies aktuell im System von den jüngeren Beitragszahler*innen für ihre Eltern abgefangen werden muss. Das Solidarprinzip, um dies noch einmal zu betonen, soll damit nicht ausgehebelt werden. Wir stellen uns diese Maßnahmen vielmehr als eine Art neuen Steuerzuschuss für das Gesundheits- und Pflegesystem vor. Interessant ist zudem, dass das Volumen dieser jeweiligen Vorsorgefonds über das Gesundheitsverhalten und die Entwicklung der Gesundheitskompetenz Aufschluss geben und Public-Health-Maßnahmen rückwirkend evaluieren könnten.
Menschen mit geringerem Einkommen und niedrigerer Bildung ernähren sich wesentlich schlechter als solche mit höherem Einkommen und höherer Bildung; beim Verzehr von Alkohol ist z. T. ein umgekehrtes Bild zu erkennen [9]. Um einer stärkeren Steuerbelastung der Geringverdiener*innen bei den zusätzlichen Abgaben für ungesunde Lebensmittel entgegen zu wirken, sollten diese Maßnahmen von Aufklärungs- und Bildungsarbeit in Sachen Gesundheit, Ernährung und Sport für verschiedenen Zielgruppen flankiert werden (siehe Kapitel 3.3).

Wir fordern:

  • Eine bis ins letzte Detail ausgearbeitete Prognose der Kosten einer möglichen Rothgang-Pflegereform oder sonstiger Reformvorschläge seitens der Regierungs- oder Oppositionsparteien, die uns langfristig erwarten werden.
  • Neue Steuern für Tabak, besonders zucker- oder salzhaltige Lebensmittel und Alkohol zugunsten der Vorsorgefonds des Gesundheitswesens.

1 Institut der deutschen Wirtschaft Köln e.V. (IW Köln), https://www.iwkoeln.de/studien/iw-reports/beitrag/susanna-kochskaemper-auswirkung-einer-laengeren-lebensarbeitszeit-auf-die-rentenversicherung-357238.html
2 Statistisches Bundesamt, 2018, Pflegestatistik 2017; IW Köln, 2018, Die Entwicklung der Pflegefallzahlen in den Bundes-ländern, https://www.iwkoeln.de/fileadmin/user_upload/Studien/Report/PDF/2018/IW-Report_33_2018_Pflegefallzahlen.pdf
3 Die heutigen Beitragszahler zahlen Beiträge z. B. in die soziale Pflegeversicherung ein, finanzieren damit die Ausgaben für die Pflegebedürftigen heute und gehen davon aus, dass die nachfolgenden Generationen dasselbe für sie tun werden
4 z. B. Pflegepflichtversicherungsbeiträge werden als Altersrückstellungen pro Versicherten angespart und ausgeschüttet
5 Bundesgesetzblatt, Jahrgang 1994, Teil 1, Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (PflegeVG)
6 https://www.pro-pflegereform.de/gutachten
7 18 Mrd. Euro in 2007, 39 Mrd. Euro in 2017, Zahlen und Fakten zur Pflegeversicherung des BMG
8 Vorbild ist der (umstrittene) Pflegevorsorgefonds gem. § 131 SGB XI, der hiervon profitieren soll
9 Nationale Verzehrsstudie II - Ergebnisbericht Teil 2, Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Verbraucher-schutz (BMELV) 2008, S. 163

3. Eine Gesundheitspolitik für unsere Zukunft

3.1 Digitalisierung – nutzen statt verteufeln

EIN KAPITEL DER DENKSCHMIEDE GESUNDHEIT


Die Digitalisierung des Gesundheitswesens ist bereits seit mehr als 15 Jahren Teil der deutschen Gesundheitspolitik. Dabei drehen sich die Diskussionen seither hauptsächlich um die Telematikinfrastruktur und ihre Fachanwendungen, um die Elektronischen Gesundheitskarte (eGK) und seit Kurzem auch um die Einführung der Elektronischen Patientenakte (ePA).
Aus Sicht der Denkschmiede Gesundheit handelt es sich bei diesen Teilstücken um wichtige Grund-steine und Eckpfeiler für die digitale Vernetzung des Gesundheitswesens. Allerdings stellen wir fest, dass es sich nach unserem Verständnis nicht um die oft genannten innovativen Lösungen handelt, sondern um in anderen Ländern bereits seit vielen Jahren bestehende technische Standards. Sie sollten auch in Deutschland bereits zum Behandlungsalltag gehören.
Die Gründe für die langjährigen Verzögerungen der Umsetzung der digitalen Vernetzung des Gesundheitswesens sind bekannt. Die Analyse der Umsetzung der Telematikinfrastruktur zeigt, dass es kaum einen an der Umsetzung beteiligten Akteur gibt, der nicht auf irgendeine Weise zur Verzögerung beigetragen hat – ob Selbstverwaltung, Industrie, Politik oder die mit der Rahmensetzung und Zertifizierung betrauten Bundesbehörden. Insgesamt wurde die Komplexität des Projektes Digitalisierung im Gesundheitswesen stark unterschätzt. Als Antwort auf die Herausforderungen wurden Strukturen und Lösungen gewählt, die ihren Dienst von vornherein versagen mussten: Die Regeln, denen die Digitalisierung folgt, sind im Vergleich zu jenen der Gesundheitspolitik zu unterschiedlich. In den Strukturen des deutschen Gesundheitswesens konnte die dem internationalen Wettbewerb ausgesetzte Digitalisierung den Versicherten nicht zugänglich gemacht werden.
Wir sind der Überzeugung, dass die bisherigen Erfahrungen besonders auf das Fehlen eines großen gemeinsamen Plans aller Akteure zurück zu führen sind. Zu sehr wurde immer wieder im Kleinen geplant und Fehler wurden mehrfach wiederholt. Es fehlt an einer großen Vision der Digitalisierung des deutschen Gesundheitswesens und es fehlt an einer Strategie zur Umsetzung dieser Vision.
Für die Denkschmiede Gesundheit bedeutet die Entwicklung einer Vision für eine Digitales Gesund-heitswesen Sicherheit für die Zukunft der Gesundheitsversorgung innerhalb des Solidarsystems und darüber hinaus. Dabei verkennen wir nicht, dass damit ein Kulturwandel eingeleitet wird, der viele Jahre andauern kann. Trotz der real immer kürzer werdenden Innovationszyklen liegt für uns der Schlüssel in der Überlegung, wie das System in 20 bis 30 Jahren aussehen muss, um den schon jetzt bekannten Herausforderungen entgegentreten zu können. In der Weitsicht liegt unsere Zukunft und die Zukunft der Gesundheitsversorgung unserer Kinder.


Folgende Punkte sind Teil unserer Vision für eine digitale Zukunft des deutschen Gesundheitswesens. Folgende Punkte sollte der Gesetzgeber in einer Strategie für eine digitale Zukunft beachten oder umsetzen.


Bildung
Der Einsatz von Technik bietet keinen Mehrwert, wenn die Menschen nicht mit dem Umgang ver-traut sind. Neben dem Ziel der Verbesserung der allgemeinen Gesundheitskompetenz der Bevölkerung ist es auch die „digitale Kompetenz“, die verbessert werden muss. Für ältere Menschen liegt der Fokus in einem ersten Schritt dabei eher in der Anwendung der Technik selbst. Sie dürfen bei dem Ausbau der Digitalkompetenzen nicht vergessen werden, denn für sie ist die Möglichkeit digitaler Unterstützung teils noch nicht alltäglich. Jüngere Menschen hingegen sollten vertieft mit den Hintergründen der Technologien vertraut gemacht und hinsichtlich der Datenkompetenz zu mündigen Bürger*innen werden, die in der Lage sein werden, die Technik, ihre Anwendung und die Folgen für sich und andere abzuschätzen.
Speziell im Gesundheitswesen muss das Thema Digitalisierung umfassend Eingang in die Aus-, Fort,- und Weiterbildung aller Gesundheitsberufe finden. Erst damit würden Menschen in diesen Berufen fähig sein, auch die Anforderungen der Zukunft umfassend zu erfüllen. Dass die Digitalisierung mit ihren möglichen Komponenten im Berufsalltag eines*r Pflegers*in in der kürzlich neu gefassten Pflegeberufe-Ausbildungs- und Prüfungsverordnung (PflAPrV) unberücksichtigt bleiben und die Nutzung digitaler Pflegedokumentationssysteme lediglich optional zur analogen Variante aufgezeigt wird [10], erscheint uns nicht zukunftsgerichtet.
Insgesamt muss die Bildungspolitik sich diesen Themen annehmen. Zwischen den Bundesländern muss ein Verfahren etabliert werden, wie die Themenfelder Gesundheit und Digitales auf gleichem Niveau in allen Bundesländern vermittelt werden können. In Zeiten von „Landflucht“ und einer gleichzeitigen Alterung der Bevölkerung zählt nicht nur Gesundheit, sondern auch Digitales aus unserer Sicht zur elementarsten Daseinsvorsorge. Bildung muss hier den nötigen Kulturwandel zu unterstützen.


Zugang und Einsicht
Es besteht im Regelungsbereich des Zugangs zu persönlichen Gesundheitsdaten dringender Anpassungsbedarf. Der bestehende Rechtsrahmen spiegelt die heutigen Anforderungen der Bürger*innen im Sinne eines zeitlich und örtlich unabhängigen Zugangs zu allen persönlichen Behandlungsinforma-tionen und Gesundheitsdaten nicht mehr wider. Derzeit ist Patient*innen nur auf Verlangen Einsicht in die Patientenakte zu gewähren (§ 630g Absatz 1 Satz 1 BGB). Im Rahmen der Einführung der elektronischen Patientenakte sollte der Gesetzgeber hier nachjustieren, um die Patient*innen in ihrer Datenhoheit angemessen zu berücksichtigen.


Zugang für Innovationen
Ein Zugang wird bei digitalen Innovationen besonders zur Finanzierung durch den ersten Gesund-heitsmarkt und die Regelversorgung benötigt und muss jetzt geschaffen werden. Dabei muss Qualität und Sicherheit genauso im Fokus des Handelns stehen, wie eine den Innovationszyklen angemessene Zeitschiene, in der neue Produkte die Menschen in Deutschland erreichen können. Der Gesetzgeber muss dafür jetzt den passenden Rahmen schaffen. Denn digitale Versorgungsangebote und Gesundheitslösungen werden in wenigen Jahren eine Selbstverständlichkeit für die Menschen sein. Jetzt geht es darum, Unternehmen den Marktzugang möglich zu machen. Nicht zuletzt, damit Unternehmen sich nicht vorrangig ausländische Märkte erschließen müssen.


Vernetzung
Die Vernetzung aller an der Gesundheitsversorgung beteiligten Akteure im Gesundheitswesen ist der Grundbaustein für die Verbesserung der Versorgung durch Digitalisierung und sollte konsequenter vorangetrieben werden. Dafür müssen die Patient*innen als steuernde Akteure im Mittelpunkt stehen. Sorgenkind der Vernetzung ist nach wie vor die Interoperabilität der verschiedenen Anwendungen. Das betrifft alle Bereiche des Gesundheitswesens vom Krankenhaus, in dem die Systeme verschiedener Abteilungen nicht miteinander interagieren können, über Pflegeeinrichtungen, weitere Leistungserbringergruppen bis hin zu den Krankenkassen, die im Wettbewerb um die besten Lösungen für elektronische Patientenakten und Gesundheitsportale anfänglich auf Insellösungen setzen mussten. Über interoperable, möglichst internationale Standards und Schnittstellen muss auf Bundesebene Transparenz geschaffen werden, damit für die anbietenden Akteure Planungssicherheit entsteht. Nur bei klaren und transparenten Verfahren lassen sich die Ziele des Gesetzgebers in der Praxis umsetzen.
Verfahren und Vorgaben braucht es auch für bestehende digitale Anwendungen im Gesundheitswesen. Symptom fehlender Interoperabilität sind besonders die immer noch wenig vernetzbaren Krankenhausinformations- und Praxisverwaltungssysteme, die in allen Gesundheitseinrichtungen zu finden sind. Im Sinne des Patientenschutzes sollte der Gesetzgeber an dieser Stelle Konsequenz zeigen, indem diese Systeme zentral zertifiziert und für die Versorgung zugelassen werden. Nicht interoperable Systeme sind für die Versorgung zu sperren.
Bei der Vernetzung des Gesundheitswesens muss auch hinsichtlich der Datenverfügbarkeit über die deutschen Landesgrenzen hinaus Weitblick bewiesen werden. Standards und Schnittstellen müssen so gewählt werden, dass langfristig auch eine Vernetzung mit dem europäischen Ausland möglich ist. All diese Punkte immer unter der Prämisse, dass die Patient*innen die Hoheit über ihre Daten behalten.


Telemedizin
Die demografischen Entwicklungen in Deutschland sind unumkehrbare Realität. Als Vertreter*innen einer jungen Generation im Gesundheitswesen sind wir daher an langfristigen Lösungen interessiert, die unser Gesundheitswesen zukunftsfest machen. Dabei geht es uns zentral um die Beibehaltung und zukünftige Sicherstellung bedarfsgerechter gleichwertiger Lebensverhältnisse. Jeder Mensch sollte die Versorgung bekommen, die er will und die er braucht – unabhängig vom Wohnort.
Für das Gesundheitswesen liegt daher besonders in der Fernbehandlungen ein Teil der Zukunft der Versorgung. Die Rolle der Fernbehandlung und Telemedizin sollte besonders hinsichtlich der Versorgungssteuerung, hinsichtlich der Grundversorgung aber auch der fachärztlichen Behandlung in bestimmten Teilbereichen gestärkt werden. Einen erfreulichen Schritt in Richtung der Öffnung des Fernbehandlungsverbotes ist die Bundesärztekammer bereits im Frühjahr 2018 gegangen. Aus Sicht der Denkschmiede Gesundheit muss diese Öffnung aber auch konsequent in den einzelnen Bundesländern umgesetzt werden, damit der Weg für die Fernbehandlung und für neue Konzepte weiter geebnet wird. Die Expertise, die über telemedizinischen Vernetzung gebündelt werden kann, steigert zudem die Qualität der Gesundheitsversorgung und sorgt perspektivisch dafür, dass Effizienzreserven in der Praxisorganisation gehoben werden können. Überdacht werden sollte mit telemedizinischen Versorgungsprogrammen auch die klassischen Rollenbilder im Gesundheitswesen. Die Delegation und Substitution ärztlicher Leistungen, kann dabei unterstützen.
Gerade eine neue, junge Generation von Mediziner*innen steht unserer Erfahrung nach der Fernbehandlung offen gegenüber und unterscheidet sich in ihren Positionen oft von den tradierten Positionen ihrer Standesvertreter*innen. Wir fordern die Politik daher auf, nicht nur den Bereich der Fernbehandlung weiter zu unterstützen und passende, die physische Behandlung ersetzende, Modelle zu unterstützen, sondern auch das Thema Fernverschreibung wirksam anzugehen.


Prävention und Nutzung Gesundheitsdaten
Die Denkschmiede Gesundheit setzt sich dafür ein, den Zugang zu bereits vorhandenen Gesundheitsdaten für die Versorgungsforschung und die Akteure im Gesundheitswesen zu verbessern. Zu groß sind die Potenziale, die aus der Anwendung moderner Analysemethoden für die Gesundheitsversorgung erwachsen. Diese Potenziale müssen jetzt genutzt werden.
Dabei ist zu überdenken, ob im Sinne der Daseinsvorsorge und gleichwertiger Lebensverhältnisse die Aufsicht für Versorgungsforschung sowie eine zentrale Vertrauensstelle auf Bundesebene etabliert werden sollte. Vorteil wäre, dass Forschungsprojekte schneller umsetzbar wären und ihre Ergebnisse für die Versorgung zur Verfügung stünden.
Angesichts des demografischen Wandels gilt es zudem, der besonderen Rolle der Prävention schon jetzt die Aufmerksamkeit zuteilwerden zu lassen, die ihr für die Gesundheit einer immer länger arbeitenden Bevölkerung zukommen muss. In diesem Sinne muss der Zugang zu und die Nutzung von Gesundheitsdaten zum Zweck der Prävention und Gesundheitsförderung vor Krankheitseintritt ermög-licht werden.
Schlussendlich muss im Sinne des Solidarsystems der Gesetzlichen Krankenversicherung jeder Mensch die Möglichkeit erhalten, zu entscheiden, ob er seine Daten für die Weiterentwicklung der Gesundheitsversorgung und die Gesunderhaltung der Bevölkerung anonymisiert oder pseudonymisiert teilen will. So kann die Bevölkerung selbst zur Fortentwicklung der Gesundheitsversorgung beitragen.
Mit Digitalisierung lassen sich Brücken zwischen den tradierten Sektoren des Gesundheitswesens bauen, wo bisher keine „Überquerung“ möglich war. Wir fordern die Politik, auf jetzt zu handeln. Wir bieten der Politik an, sie mit der Expertise und den Ideen der jungen Generation zu unterstützen.


Wir fordern:

  • Eine übergeordnete Vision der Digitalisierung im Gesundheitswesen.
  • Maßnahmen zur Unterstützung der Digital- und Gesundheitskompetenz in der Bevölkerung und bei Fachkräften.
  • Maßnahmen zur Stärkung der digitalen Souveränität.
  • Rahmenbedingungen für einen zeitlich und örtlich unabhängigen Zugang zu allen persönlichen Behandlungsinformationen und Gesundheitsdaten.
  • Neue passende Rahmenbedingungen für einen Zugang innovativer digitaler Produkte in den ersten Gesundheitsmarkt und in die Regelversorgung unter Beachtung bestmöglicher Sicherheit und vorhabengerechter Schnelligkeit.
  • Transparenz über und Konsequenz bei der Schaffung von Interoperabilität der Vernetzung im Gesundheitswesen.
  • Auf europäischen Datenaustausch ausgerichtete Standards und Schnittstellen in der Vernetzung.
  • Ausbau der Rahmenbedingungen für Fernbehandlung und Fernverschreibung.
  • Bundeseinheitliche Aufsicht für Versorgungsforschung und zentrale Vertrauensstelle Versorgungsforschung auf Bundesebene.
  • Schaffung eines Zugangs zur Nutzung von Gesundheitsdaten für Prävention und Gesundheits-förderung.
  • Rahmenbedingungen zur Datenteilung schaffen.
  • Stärkung vulnerabler Personengruppen im Zugang zu digitalen Gesundheitstechnologien.

10 PflAPrV Anlage 1 zu § 7 Satz 2, S. 50

3.2 Mentale Gesundheit – Prävention und Akzeptanz

EIN KAPITEL DER STIFTUNG FÜR DIE RECHTE ZUKÜNFTIGER GENERATIONEN


Psychische Belastungen und Erkrankungen betreffen immer mehr junge Menschen. Immer mehr junge Erwachsene im Alter zwischen 18 und 25 leiden an psychischen Erkrankungen wie Depressionen, Angststörungen oder Panikattacken. Diese allgemeine Tendenz macht auch vor Studierenden nicht Halt: Jeder sechste von ihnen ist von einer psychischen Diagnose betroffen [11]. Auch Suizid unter Heranwachsenden bleibt ein ernstzunehmendes Problem [12].
Die Ursachen liegen in der sich wandelnden Lebens- und Arbeitswelt. Junge Erwachsene finden sich häufig in Umbruchsituationen, die belastend sind und das Auftreten psychischer Erkrankungen begünstigen können. Neben persönlichen und erblichen Faktoren spielt die sich wandelnde Umgebung junger Menschen eine erhebliche Rolle beim Auftreten gesundheitlicher Probleme [13]. An erster Stelle zu nennen ist hier der zunehmende Druck und Stress in Ausbildung und Beruf. Unsichere Arbeitsverhältnisse sowie Zeit- und Leistungsdruck wirken sich negativ auf Stresslevel und Anfälligkeit für Erkrankungen aus. Auch Zukunftsängste und finanzielle Sorgen spielen eine signifikante Rolle [14].
Die Digitalisierung ist aus dem Leben junger Menschen nicht mehr wegzudenken und erfüllt wichtige Funktionen in Lebens- und Arbeitswelt. Gleichzeitig kann sich übermäßige Nutzung, vor allem der neuen Medien [15], negativ auf die Gesundheit junger Menschen auswirken [16]. Schlafprobleme [17] und Online-Suchtverhalten sind hier nur zwei von vielen Beispielen. Auch von somatischen Erkrankungen sind viele junge Menschen betroffen. Diese können Folge eines ungesunden Lebensstils sein: z.B. bewegen sich gerade junge Menschen viel zu wenig [18].
Betroffene bekommen nicht genug geeignete Hilfsangebote. Präventionsmaßnahmen erreichen junge Menschen weniger häufig als ältere [19]. Dabei wäre gerade hier frühzeitiges Eingreifen und das Vor-handensein niedrigschwelliger Angebote zur Behandlung wichtig [20]. Auch grundsätzliche Probleme des Gesundheitssektors durch Versorgungsengpässe, fehlende Attraktivität der Arbeit im Gesundheitssektor [21] und bestehende Ungleichheiten erschweren den Zugang der Erkrankten zu adäquater Behandlung.
Die Politik muss handeln. Jugendliche und junge Erwachsene sind die Steuer- und Beitragszahler von morgen. Die Gesundheit junger Menschen zu stärken und zu fördern ist daher notwendig, um die Gesellschaft mittel- und langfristig nachhaltig funktionsfähig zu erhalten. Das ist auch mit Blick auf zukünftige Generationen zu sehen, die von geschaffenen Strukturen eines erfolgreichen Umgangs mit den Herausforderungen des digitalen Alltags ebenfalls profitieren würden.


Wir fordern:

  • Arbeitswelt reformieren und Stressquellen beseitigen. Die zunehmend erwartete Flexibilität, Mobilität und ständige Verfügbarkeit im Beruf, gepaart mit unsicheren Zukunftsaussichten, haben verheerende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von jungen Beschäftigten und Studierenden. Diese Auswirkungen müssen endlich ernst genommen und die Ursachen beseitigt werden.
  • Niedrigschwellige Angebote zur Gesundheitsförderung vor Ort bereitstellen. Damit Angebote wahrgenommen werden, müssen sie nah am Alltag der Menschen und verfügbar sein: z.B. Bewegungskampagnen am Arbeitsplatz. Auch das Sportangebot an Schulen muss ausgebaut und effektiver gestaltet werden.
  • Digitalisierung nutzen und Online-Angebote zu Prävention und Bildung entwickeln. Apps und Spiele können gesundheitliches Wissen vermitteln und z.B. zu Bewegung motivieren, die Entwicklung eben solcher Online-Angebote sollte stärker gefördert werden.
  • Gesundheitssystem gerechter gestalten. Die Arbeit im Gesundheitssektor soll attraktiver werden, um Fachkräftemangel und Überlastungen des Personals entgegenzuwirken.

11 BARMER. www.barmer.de. [Online] 19 July 2018. https://www.barmer.de/blob/144354/4b9c44d83dc8e307aef527d981a4beeb/data/dl-pressemappe-barmer-arztreport2018.pdf
12 WHO Europa. [Online] 04 September 2014.
http://www.euro.who.int/de/health-topics/noncommunicable-diseases/mental-health/news/news/2014/09/suicide-a-leading-cause-of-death-among-young-adults-in-high-income-countries
13 Lampert, Thomas, Richter, Matthias and Bohn, Verena. Kinder und Jugendliche: die Gesundheit der heranwachsenden Generation. [book auth.] Thomas Schott. Die Gesellschaft und ihre Gesundheit. Wiesbaden : VS Verlag für Sozialwissenschaften, 2011, pp. 489-508.
14 BARMER 2018.
15 Facebook use predicts declines in subjective well-being in young adults. Kross, Ethan and Verduyn, Philippe and Demiralp, Emre and Park, Jiyoung and Lee, David Seungjae and Lin, Natalie and Shablack, Holly and Jonides, John and Ybarra, Oscar. 2013, PloS one, p. e69841.
16 Pathological Internet Use—An Important Comorbidity in Child and Adolescent Psychiatry: Prevalence and Correlation Patterns in a Naturalistic Sample of Adolescent Inpatients. Fuch, Martin, et al. 2018, BioMed Research International.
17 Machen Smartphones Jugendliche und junge Erwachsene schlaflos? Strube, Tanja Bianca, In-Albon, Tina and Weeß, Hans-Günter. 2016, Somnologie, pp. 61-66.
18 Koerperliche Leistung, Gewichtsstatus, Raucherquote und Sporthaeufigkeit von jungen Erwachsenen. Leyk, Dieter, et al. 2012, Deutsches Aerzteblatt, pp. 109 44 737-747.
19 Teilnahme an verhaltenspräventiven Maßnahmen. Jordan, S. and Von der Lippe, E. 2013, Bundesgesundheitsblatt, pp. 56 (5-6), 878-884.
20 WHO. Europäischer Aktionsplan für psychische Gesundheit – WHO Aktionsplan 2013. www.euro.who.int. [Online] 2013. http://www.euro.who.int/__data/assets/pdf_file/0008/195218/63wd11g_MentalHealth-2.pdf.21 Baustelle Gesundheitspolitik. Gerlinger, Thomas. 2018, Zeitschrift der Bundeszentrale für politische Bildung, pp. 25-31.

3.3 Gesundheitskompetenz – über mündige Patienten

EIN KAPITEL DER DENKSCHMIEDE GESUNDHEIT


Gesundheit ist ein Thema, das viele junge Menschen viel zu wenig interessiert und über welches sie nicht genug wissen. Gesundheitskompetenz wird verstanden als die Fähigkeit, gesundheitsbezogene Informationen finden, bewerten und nutzen zu können [22]. Nach einer Untersuchung der Weltgesundheitsorganisation [23] und des Imperial College London sind ca. 25 % der deutschen Kinder übergewichtig [24]. Schon früh werden dadurch gesundheitliche Risikofaktoren im Alterungsprozess gesteigert. Durch rechtzeitige und umfassende gesundheitliche Bildung lassen sich bereits im Grundschulalter wichtige Impulse setzen. Das Prinzip der Health Literacy ist "die Bezeichnung für die gesundheitsbe-zogene Bildung bzw. gesundheitliche Grundbildung einer Person, die bei Kindern und Jugendlichen in der schulischen Gesundheitserziehung, bei Erwachsenen in der Gesundheitsbildung vermittelt wird" [25]. Diese Fähigkeit ist laut dem STADA Gesundheitsreport 2017 bei zwei Dritteln der jungen Menschen „problematisch“ oder „inadäquat“ ausgeprägt (STADA, 2017). Besonders problematisch ist, dass soziale mit gesundheitlicher Ungleichheit einhergeht [26]. Gesundes Verhalten wird im Elternhaus erlernt, hieraus entwickeln sich ungleiche Gesundheitschancen innerhalb der Generationen [27]. Auch in einer Studie aus diesem Jahr in der Deutschen Medizinischen Wochenschrift zeigt sich ein Zusammenhang von medizinischem Wissen und Schulbildung. Außerdem zeigt die Studie, dass Patient*innen angeben, medizinische Fachbegriffe, die von Ärzt*innen häufig verwendet werden (zB. Angina pectoris, Body-Mass-Index), zu kennen, dass sie diese aber dann nicht korrekt erklären oder einordnen können [28]. Daraus leiten die Autor*innen ab, dass zukünftige Evaluation von Gesundheitskompetenz im Bereich von medizinischen Begrifflichkeiten nicht nur auf subjektiver Selbsteinschätzung erfolgen, sondern das objektive Wissen überprüft werden sollte.


Wir fordern:

  • Die Evidenzlage zur Gesundheitskompetenz der Bevölkerung muss aufgegriffen und darauf aufbauend ein detaillierter Ansatz erarbeitet werden, wie gesundheitliche Bildung kurz-, mittel- und langfristig verbessert werden kann.
  • Mittels Health Literacy bestehende Angebote zu optimieren und neue Angebote zu schaffen, um die Gesundheitskompetenz der heranwachsenden Generation bereits frühzeitig zu stärken. Zum Beispiel mit einem kostenlosen Angebot von Health Literacy Kursen für werdende Eltern, Online-Ressourcen für Eltern, Kinder und Jugendliche, sowie Lehrer*innen.
  • Die Kultusministerkonferenz hat das Thema „Gesundheit (und Ernährung) als Schulfach“ unzureichend behandelt und sollte dies, z. B. auf der nächsten Zusammenkunft im Dezember 2018 endlich verbindlich behandeln. Sie soll beschließen, dass dieses Schulfach in allen Bundesländern für alle Schüler*innen verpflichtend eingeführt wird.

22 Health Literacy bei Kindern und Jugendlichen. Ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand. Orkan, Okan, et al. 2015, Bundesgesundheitsblatt, pp. 58 (9) 930-941.
23 WHO
24 NCD Risk Factor Collaboration, 2017
25 Health Literacy bei Kindern und Jugendlichen. Ein Überblick über den aktuellen Forschungsstand. Orkan, Okan, et al. 2015, Bundesgesundheitsblatt, pp. 58 (9) 930-941.26 Lampert, Thomas, Hagen, Christin and Heizmann, Boris. Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen. Beitraege zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. www.rki.de. [Online] 2010. http://www.rki.de/DE/Content/Gesundheitsmonitoring/Gesundheitsberichterstattung/GBEDownloadsB/soz_ungleichheit_kinder.pdf?__blob=publicationFile.
27 Lampert, Thomas, Hagen, Christin and Heizmann, Boris. Gesundheitliche Ungleichheit bei Kindern und Jugendlichen. Beitraege zur Gesundheitsberichterstattung des Bundes. www.rki.de. [Online] 2010.
28 Gundling, F., Parasiris, P., Bunz, A.-L., Sohn, M., Haller, B., Schepp, W. et al. (2019). Defizite in der Gesundheitskompetenz stationär behandelter Patienten – eine Querschnittstudie. Dtsch med Wochenschr, 144 (04), e21-e29. https://doi.org/10.1055/a-0758-0647

3.4 Hausarztzentrierte Versorgung – sicherstellen und weiterdenken

EIN KAPITEL DER DENKSCHMIEDE GESUNDHEIT


Aufgrund struktureller gesellschaftlicher Veränderungen wie Landflucht und demographischer Wandel ist gerade in einigen ländlichen Regionen eine ausreichende medizinische Versorgung immer schwieriger zu gewährleisten und somit zu einer großen gesundheitspolitischen Herausforderung herangewachsen. Ob in den betroffenen Regionen auch in Zukunft die Versorgung sichergestellt werden kann, ist maßgeblich davon abhängig, ob attraktive Arbeitsbedingungen für Ärzt*innen geschaffen werden und gleichzeitig eine möglichst effiziente Ressourcennutzung erfolgt.
Den Hausärzt*innen kommen in diesem Zusammenhang eine zentrale Bedeutung zu, da sie die Patientenbedürfnisse als erste Ansprechpartner*innen erfassen und erforderliche medizinische Leistungen koordinieren. Um Hausärzt*innen für eine Tätigkeit in den strukturschwachen Regionen zu ge-winnen, bedarf es einiger grundlegender Maßnahmen. So sollte die Komplexität des Hausarzt-Berufs im allgemeinen Bewusstsein eine höhere Wertschätzung erfahren und sich auch in einer fairen Vergütung ausdrücken. „Lockangebote“ allein - wie sie z. B. für junge Menschen durch Zusicherung eines Medizinstudienplatzes bei Verpflichtung für eine mehrjährige ländliche Hausarzttätigkeit diskutiert werden - werden kaum ausreichen, um Versorgungslücken nachhaltig zu schließen. Auch verpflichtende Praktika innerhalb des Medizinstudiums werden den Mangel an ausgebildetem, ärztlichem Personal im ländlichen Bereich nicht ausreichend entgegenwirken. Es braucht ein hohes Maß an Engagement und Erfahrung, um diesen Beruf effizient ausüben zu können. Außerdem zeichnet sich die hausärztliche Tätigkeit besonders durch Kontinuität aus, die eine strukturierte und vertrauensvolle Langzeit-Versorgung überhaupt erst ermöglicht. Hohe Fluktuationen in der hausärztlichen Versorgung würden diesen Qualitätsansprüchen widersprechen.
Durch die schrittweise Implementierung der „Hausarztzentrierten Versorgung“ (HzV) kann die Souveränität und damit auch das Ansehen der Hausärzte gestärkt werden und gleichzeitig eine effizientere Zuweisung zu fachärztlichen Kapazitäten erfolgen [29]. Auch Wartezeiten auf Facharzttermine könnten hierdurch in Zukunft wieder verkürzt werden. Eine erhoffte Reduktion der Gesundheitskosten konnte durch die HzV bisher jedoch (noch) nicht erzielt werden - nicht zuletzt dadurch, dass es sich bei den partizipierenden Versicherten in der Mehrzahl um ältere, multimorbide oder chronischkranke Patient*innen handelt [30]. Nichtsdestotrotz sind langfristig Kostenreduktionen nicht ausgeschlossen, da im Kontext der Sekundärprävention (z.B. bei der Vermeidung von Spätfolgen des Diabetes mellitus) bereits Erfolge nachgewiesen werden konnten [31]. Junge Menschen hingegen nutzen die hausärztliche Versorgung eher bedarfsgerecht, nicht selten fehlt eine kontinuierliche hausärztliche Anbindung komplett. Aber auch hier könnte die HzV durch eine konsequentere Durchführung präventiver Maßnahmen (z.B. Impfungen, Check-up, Krebsvorsorgeuntersuchungen) zur Gesundheitsförderung beitragen und langfristig ebenfalls eine Kostenreduktion bewirken. Hausärzt*innen könnte für junge, mobile Menschen somit als „Gesundheitsmanager“ fungieren, die eine verlässliche Versorgung gewährleisten, z.B. unterstützt durch eine elektronische Patientenakte. Jedoch ist zu beachten, dass junge, eigentlich gesunde Menschen dadurch nicht künstlich zu Patient*innen gemacht werden dürfen.
Besonders mit Blick auf den demographischen Wandel müssen auch in der Medizin ökonomische Lösungen gefunden werden, um Krankenkassenbeiträge für jüngere Bevölkerungsschichten langfristig stabil zu halten. Dies darf nicht auf Kosten der Versorgungsqualität oder durch weitreichende Leistungskürzungen realisiert werden. Die Stärkung der hausärztlichen Versorgung ist von großer Bedeutung, um Wirtschaftlichkeit und Qualitätssicherung miteinander zu verbinden.


Wir fordern:
• Die Stärkung der Rolle der Hausärzt*innen als erste Anlaufstelle der Patient*innen, auch für junge Menschen.
• Attraktivere Arbeitsplatzbedingungen für Hausärzt*innen in ländlichen Regionen statt „Landarzt-Quote für Medizinstudierende“.

 

29 Laux, G., Kaufmann-Kolle, P., Bauer, E., Goetz, K., Stock, C., & Szecsenyi, J. (2013). [Evaluation of family doctor centred medical care based on AOK routine data in Baden-Wurttemberg]. Z Evid Fortbild Qual Gesundhwes, 107(6), 372-378. doi:10.1016/j.zefq.2013.07.001
30 Freytag, A., Biermann, J., Ochs, A., Lux, G., Lehmann, T., Ziegler, J., . . . Gensichen, J. (2016). The Impact of GP-Centered Healthcare. Dtsch Arztebl Int, 113(47), 791-798. doi:10.3238/arztebl.2016.0791
31 Karimova, K., Uhlmann, L., Hammer, M., Guethlin, C., Gerlach, F. M., & Beyer, M. (2018). The development of diabetes complications in GP-centered healthcare. Am J Manag Care, 24(7), 322-327.

4. Die Zukunft unserer Gesundheitsberufe

4.1 Hilfe für Helfende - Mentale Gesundheit im Gesundheitswesen

EIN KAPITEL VON BLAUPAUSE GESUNDHEIT – INITIATIVE FÜR MENTALE GESUNDHEIT IM GESUNDHEITSWESEN


Bereits 2015 zeichnete sich im ‚TK Depressionsatlas‘ die Tendenz ab, dass Pflegekräfte überproportional von Depression und anderen psychischen Erkrankungen betroffen sind [32]. Im selben Jahr zeigte eine systematische, länderübergreifende Meta-Analyse von Mata et al. (2015), dass 28,8 % der jungen Ärzt*innen depressive Symptome aufweisen [33]. Ähnliche Zahlen finden sich auch für Psychotherapeut*innen in Ausbildung und Medizinstudierende. Bei Letzteren zeigen Statistiken, dass mehr als 11 % mindestens einmal während ihres Studiums Suizidgedanken haben [34]. Diese Zahlen lassen erkennen, wie essenziell es ist, auch ‚Hilfe für Helfende‘ zu generieren. Helfende sind dabei nicht nur Ärzt*innen, Therapeut*innen und Pflegekräfte, sondern alle am Gesundheitswesen Beteiligten – von Pflegeschüler*innen über Ergotherapeut*innen bis hin zu Psycholog*innen, um nur ein paar Berufsgruppen zu nennen.
Die Gesundheit der Helfenden ist als Einflussfaktor für die Zukunftsfähigkeit – und grundlegender: die Funktionsfähigkeit – des Gesundheitswesens nicht zu unterschätzen. Fallkostenpauschalen, das Denken in Pflegeeinheiten oder doppelte Schichten aufgrund von Personalmangel erschweren eine ver-antwortungsbewusste Pflege und Behandlung von Patient*innen nach höchsten Standards ebenso, wie sie die Pflegenden und Behandelnden verstärkt unter Zeit- und Leistungsdruck setzen. Unter diesem Vorzeichen sehen wir insbesondere staatliche Organe in der Verantwortung, mentale Gesundheit im Gesundheitswesen zu adressieren und zu fördern. Im Blick auf die hohen Prävalenzen sollte insbesondere ein Ausbau der Präventionsmaßnahmen erfolgen. Zwar stellt das Präventionsgesetz hierfür bereits einen Rahmen bereit; dieser betrachtet allerdings die Spezifika des Gesundheitswesens nur unzureichend. Neben der Beseitigung offenkundiger struktureller Ursachen von psychisch krankmachenden Faktoren (wie Personalmangel, unzumutbaren Arbeitsbedingungen, Bürokratisierung) sind Präventions- und Beratungsstellen notwendig, die sich auf ‚Hilfe für Helfende‘ fokussieren und beispielsweise einen raschen Zugriff auf die ambulante Versorgung ermöglichen. Prävention sollte darüber hinaus bereits im Ausbildungskontext ansetzen und mentale Gesundheit beispielsweise bei der zuletzt diskutierten Reform des Medizinstudiums mitgedacht werden.
Für ihr Gelingen setzt erfolgreiche Prävention schließlich eine Kultur von Verständnis und Offenheit voraus, die der Stigmatisierung psychisch Erkrankter entgegenwirkt. Diese Offenheit vorzuleben, sollte dabei nicht alleinige Aufgabe privater Organisationen und gemeinnütziger Vereine sein, die über psychische Erkrankungen aufklären und Informationen zu mentaler Gesundheit bereitstellen. Vielmehr ist es an der Politik, auch im Bereich der mentalen Gesundheit Akzeptanz, Toleranz und gegenseitiges Verständnis vorzuleben.
Folglich ist für ein verantwortungsvolles und gesünderes Gesundheitswesen nicht nur der Blick auf neueste Technologien und höchste medizinische Standards nötig, sondern besonders auch der Einbezug der Gesundheit des Personals als Dreh- und Angelpunkt guter Pflege und Therapie. Hierfür in der 19. Legislaturperiode entscheidende Weichen zu stellen, ist nicht nur wünschenswert, sondern notwendig, damit wir in Deutschland auch zukünftig eine gute Gesundheitsversorgung bereitstellen können.


Wir fordern:

  • Über einen Ausbau von Präventionsprogrammen und niederschwelligen Beratungs- und Hilfsangeboten das Thema der psychischen Gesundheit im Gesundheitswesen zu verankern und gerade dort die Akzeptanz psychischer Erkrankungen zu stärken.
  • Die Bearbeitung struktureller Ursachen von psychisch belastenden Faktoren in der Arbeit im Gesundheitswesen, darunter Personalmangel, unzumutbaren Arbeitsbedingungen und Bürokratisierung.

 

32 TK Depressionsatlas. Arbeitsunfähigkeit und Arzneiverordnung (2015): URL: https://www.tk.de/centaurus/servlet/contentblob/696244/Datei/2288/Depressionsatlas-2015.pdf (zuletzt abgerufen: 27.10.2018), hier insbesondere S. 15, 31.
33 Mata, D. A.; Ramos, M. A.; Bansal, N.; Khan, R.; Guille, C.; Di Angelantonio, E.; Sen, S. (2015): Prevalence of Depression and Depressive Symptoms Among Resident Physicians: A Systematic Review and Meta-analysis, in: JAMA 314/22, S. 2373-2388. DOI: 10.1001/jama.2015.15845.
34 Rotenstein, L. S.; Ramos, M. A.; Torre, M.; Segal, J. B.; Peluso, M. J.; Guille, C.; Sen, S.; Mata, D. A. (2016): Prevalence of Depression, Depressive Symptoms, and Suicidal Ideation Among Medical Students: A Systematic Review and Meta-Analysis, in: JAMA 316/21, S. 2214-2236. DOI: 10.1001/jama.2016.17324.

4.2 Mediziner*innen

EIN KAPITEL DES BUNDESVERBANDES DER MEDIZINSTUDIERENDEN (BVMD)


Im Zuge dieses Positionspapiers beziehen wir in den folgenden Abschnitten Stellung zum Masterplan Medizinstudium 2020, vor allem in Hinblick auf die veränderten Anforderungen des Arztberufes und der Versorgungslage im 21. Jahrhundert.
Der Masterplan Medizinstudium 2020 ist ein bundespolitisches Beschlusspapier und umfasst 37 Maßnahmen zu Veränderungen der Studienstruktur und der Ausbildungsinhalte des Medizinstudiums mit den Schwerpunkten kompetenzorientierte Ausbildung, praxisnahe Lehre und Prüfungen sowie Stärkung der Allgemeinmedizin. Diese sollen eine Anpassung an einen veränderten Versor-gungsbedarf sowie an die Realität eines sich wandelnden ärztlichen Anforderungsprofils darstellen. Zentrales Umsetzungselement ist die Neufassung der Ärztlichen Approbationsordnung (ÄApprO).
Konkrete Forderungen umfassen eine longitudinale Integration der vorklinischen und klinischen Inhalte im Studium, eine kompetenzbasierte Ausbildung und einen stärkeren Fokus auf Wissenschaftskompetenzen. Darüber hinaus sollen Erhöhungen der Studienplatzkapazitäten in den Ländern überprüft sowie die Zulassung neugestaltet werden.
Erforderlich dafür ist eine an den künftigen ärztlichen Aufgaben und den dafür notwendigen Kompetenzen orientierte Ausbildung, die es den Studierenden ermöglicht, neben Wissen auch Fähigkeiten, Fertigkeiten und Haltungen zu erwerben.
Die bvmd begrüßt dabei die Entwicklung hin zu kompetenzorientierter Lehre und Prüfungen auf Basis der Reduktion auf ein Kerncurriculum. Die dadurch vorgesehene Ausweitung des Wahlpflichtbereichs und die Stärkung von wissenschaftlichen Kompetenzen sehen wir ebenfalls als notwendige Verbesse-rungen des Medizinstudiums.


Primärversorgung und Allgemeinmedizin im Masterplan
Die verstärkte Berücksichtigung der Primärversorgung in der Lehre und Forschung, welche im Masterplan unter anderem durch die Maßnahmen der Einführung einer Landarztquote, eines ambulanten Pflichtquartales im Praktischen Jahr mit verpflichtendem Prüfungsanteil Allgemeinmedizin im dritten Abschnitt der Ärztlichen Prüfung, einer longitudinalen Einbindung der allgemeinmedizinischen Lehre sowie mehr ambulanter Lehre in ländlichen Lehrkrankenhäusern und Lehrpraxen umgesetzt werden soll, ist ein essentieller Schritt in diesem Prozess. Jedoch wurde die Möglichkeit verpasst, von einer rein versorgungspolitischen Lösung abzukommen und mehr auf die Veränderungen der Anforderungen des Arztberufes selbst zu fokussieren.
Aus diesem Grund schließen wir uns der Mehrzahl der medizinischen Fachgesellschaften und -organisationen an und sprechen uns entschieden gegen eine Landarztquote aus. Bereits vor Studienantritt einer bis zu zehnjährigen Verpflichtung zuzustimmen, nach dem Studium in strukturschwachen Gebieten als Hausarzt zu arbeiten, entbehrt vor dem Hintergrund des Grundrechtes auf freie Berufswahl jeglicher Zumutbarkeit. Die ländlichen Regionen benötigen eine qualitativ hochwertige Versorgung durch motivierte Ärzt*innen, nicht durch zwangsverpflichtete.
Ebenso lehnen wir es ab, dass Studierende im Praktischen Jahr einen verpflichtenden ambulanten Abschnitt absolvieren müssen. Vielmehr sind wir davon überzeugt, dass eine freie Entscheidung aus intrinsischer Motivation heraus für alle Beteiligten von Vorteil ist.
Ziel von allgemeinmedizinischen Praktika sollte das Erleben des ambulanten Versorgungsalltags und das Erlernen wichtiger Fertigkeiten und klinischer Kompetenzen sein. Hierzu müssen Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es den ärztlichen Kolleg*innen erlauben, Zeit in die Ausgestaltung der entsprechenden Lehrveranstaltungen investieren zu können.
Um die Versorgung in ländlichen Regionen sicherzustellen, sollten die Praktikums- und Arbeitsbedingung, sowie generelle Rahmenbedingungen des Lebens vor Ort attraktiver gestaltet werden und die Entscheidung dort zu praktizieren freiwillig getroffen werden. Auch neue Versorgungsmodelle, die z.B. Telemedizin und Interprofessionalität beinhalten, sollten für die Lösung des Versorgungproblems bedacht werden. Eine rein quantitative Ausweitung von ambulanten Praxisanteilen steigert nicht die Beliebtheit eines Faches, wie beispielsweise durch den Berufmonitor von KBV, MFT und bvmd regelmäßig gezeigt wird. Wir sehen bessere Möglichkeiten, verstärkt Anreize für Studierende zu schaffen, wie z.B. langfristige strukturierte Mentoringprogramme. Insgesamt darf der Einbezug ländlich gelegener Lehrpraxen, den wir im Kontext der aktuellen Problematik begrüßen, nicht zu einer finanziellen oder strukturellen Benachteiligung der Studierenden führen.


Finanzierung
Leider ist für die geplanten Reformen noch keine ausreichende Finanzierung geklärt. Der sich abzeichnende Trend, kurzfristig die Studienplatzkapazitäten pauschal zu erhöhen - im Masterplan 2020 wird prinzipiell nur deren Überprüfung gefordert - verschärft die bisherige Situation zusätzlich. Damit das Studium weiterhin wie gefordert mit Kleingruppenunterricht und guter Lehre stattfinden kann, sprechen wir uns für eine bedarfsgerechte Finanzierung der Studienplätze und der Reformmaßnahmen aus. Eine Quersubventionierung von Krankenversorgung und Forschung durch Finanzmittel für Lehre lehnen wir daher ab und fordern insoweit eine Zweckbindung.


Masterplan Medizinstudium 2020 2.0
In Anbetracht einer zukunftsfähigen Gesundheitspolitik sollte die Ausbildung angehender Mediziner*innen an den Wandel des Gesundheitswesens angepasst werden. Das Studium muss ihnen die Fertigkeiten vermitteln, ihre Rolle im Gesundheitssystem und das Gesundheitswesen (selbst-)kritisch zu hinterfragen. Daher sollten im Rahmen der Reformierung des Medizinstudiums auch folgende Punkte Berücksichtigung finden:


Ärzt*innen im interprofessionellen Team
Inter- und intraprofessionelle Kommunikation und Teamarbeit stellen im stationären sowie ambulanten Alltag die Grundlage für eine patientenzentrierte Gesundheitsversorgung dar. Dies wurde auch auf politischer Ebene erkannt und wird im Rahmen des Masterplans Medizinstudium 2020 zunehmend als Teil der Ausbildung gefordert. Allerdings sind diese Forderungen sehr vage und geben keine klaren Richtlinien für die Umsetzung vor. Wir fordern daher, dass es neben interprofessionellem Unterricht, vor allem zu Kommunikation und Teamarbeit, auch für alle Studierende Ausbildungsabschnitte auf interprofessionellen Ausbildungsstationen (IPSTAs) gibt. Auf diesen Stationen übernehmen Studierende und Auszubildende verschiedener Gesundheitsfachberufe eigenständig die Patientenbetreuung. In steter Unterstützung durch ausgebildete Lernbegleiter der entsprechenden Berufsgruppen erlernen sie Team- und Fehlerkultur und intensivieren durch die Verantwortungsübernahme viele am Absolventenprofil orientierte wesentliche Kompetenzfelder.


Fehlermanagement
Wie regelmäßig in der Medienberichterstattung thematisiert, bestehen Defizite beim internen Umgang mit Fehlern im Gesundheitswesen. Der Masterplan versäumt es, hierzu Stellung zu nehmen. Wir sehen es dennoch als wichtig an, das Erlernen von Kompetenzen für ein kritisches Risiko- und Fehlermanagement in das Medizinstudium zu implementieren. Es sollte eine systematische Vorgehensweise gelehrt werden, um potenzielle Fehler zu identifizieren, zu bewerten und Maßnahmen zur Fehlervermeidung auswählen und umsetzen zu können. Hierzu gehört in der Klinik auch die verpflichtende Nutzung von Critical Incident Reporting-Systemen (CIRS), durch die Fehler systematisch ausgewertet werden und zukünftig verhindert werden können.


Gesundheitsökonomie und -politik
Die Ökonomie nimmt einen großen Stellenwert im Gesundheitswesen ein. Der daraus entstehende betriebswirtschaftliche Druck und das Streben nach Gewinnmaximierung können die ärztliche Entscheidungsfreiheit und die Versorgung der Patient*innen negativ beeinflussen. Daher sollten Studierenden mehr Kenntnisse über die Grundlagen des deutschen Gesundheitssystems und der Gesundheitsökonomie, insbesondere auch deren ethische Implikationen, vermittelt werden.


Digitalisierung
Die Digitalisierung wird die Medizin der nächsten Jahre und Jahrzehnte grundlegend verändern. Sie bietet die Chance, medizinische Entscheidungen durch Einsatz von großen Wissensdatenbanken (“Big Data”) und maschineller Hilfe bei deren Auswertung (“Machine Learning”) auf einer fundierteren Grundlage zu treffen und den Entscheidungsprozess zu demokratisieren, indem sie zur Gesundheitsbildung beitragen kann. Gleichzeitig birgt die Digitalisierung auch potenzielle Schwierigkeiten, z.B. hinsichtlich der Datensicherheit und dem Datenschutz („Gläserner Patient“).
Es ist deshalb erforderlich, die zukünftigen Ärzt*innen frühzeitig in diesen Prozess einzubinden. Hierzu müssen auch zwingend in den strukturellen Rahmenbedingungen wie dem Curriculum sowohl verpflichtende als auch darüberhinausgehende fakultative Möglichkeiten der Lehre digitaler Kompetenzen vorgesehen werden. Wir sehen dabei die Implementierung als Querschnittsaufgabe aller Fachgebiete, da die Digitalisierung sich nicht auf einzelne Bereiche beschränken wird.

Fazit
In einem sich ständig wandelnden Gesundheitswesen darf der Masterplan Medizinstudium 2020 nicht als in Stein gemeißelter Katalog gesehen werden, der die Richtlinien für das Medizinstudium für die nächsten Jahrzehnte festlegt, sondern als dynamisches Arbeitspapier. Wir fordern eine fortlaufende Evaluation und Anpassung an veränderte Umstände, die - beispielsweise im Bereich Digital Health und interprofessionelle Zusammenarbeit - heute möglicherweise noch außerhalb unseres Vorstellungsvermögens liegen.
Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden erwartet mit Spannung die konkreten Umsetzungen des Masterplans Medizinstudium 2020 und wird diese weiterhin proaktiv begleiten.


Wir fordern

  • Neben interprofessionellem Unterricht, vor allem zu Kommunikation und Teamarbeit, auch für alle Studierende Ausbildungsabschnitte auf interprofessionellen Ausbildungsstationen (IPSTAs).
  • Das Erlernen von Kompetenzen für ein kritisches Risiko- und Fehlermanagement im Medizinstudium.
  • Mehr Lehre über die Grundlagen des deutschen Gesundheitssystems und der Gesundheitsökonomie, insbesondere auch deren ethische Implikationen.
  • Sowohl verpflichtende als auch darüberhinausgehende fakultative Möglichkeiten der Lehre digitaler Kompetenzen.

4.3 Pflegeberufe

EIN KAPITEL DER JUNGEN PFLEGE IM DBFK BUNDESVERBAND


Professionell Pflegende haben in der Gesellschaft zwar ein hohes Ansehen, dennoch möchte kaum noch jemand diesen anspruchsvollen Beruf mit vielen Entwicklungsmöglichkeiten erlernen. Falls sich dennoch jemand dazu entschließt, herrscht oftmals nach kurzer Zeit im Beruf Unzufriedenheit und der Wunsch nach einer anderen Perspektive - weg von dem Stress und den starken Arbeitsbelastungen [35].
Es ist an der Zeit, die Bedingungen aktiv zu gestalten und zu verbessern, um den Pflegenotstand nicht noch größer werden zu lassen. Es sollte versucht werden, professionell Pflegende durch attraktive Arbeitsbedingungen im Beruf zu halten. Wesentliche Aspekte sind dabei die Stärkung der Ausbildung Akademisierung und Berufsentwicklung, eine notwendige Selbstverwaltung und Mitsprache, Wertschätzung, die Verbesserung der Pflegequalität, die Einführung eines flächendeckenden Einarbeitungskonzepts sowie die Entwicklung von Konzepten zur Vereinbarkeit von Familie und Beruf.


Ausbildung und Pflegequalität
In Anbetracht der stetig steigenden Versorgungskomplexität kann eine Verbesserung der Ausbildungsqualität zur Sicherung dringend benötigter und ausreichend qualifizierter Nachwuchskräfte in der Pflege führen. Eine qualitativ gute Ausbildung ist nur durch eine regelmäßige Praxisanleitung mit speziell weitergebildetem Personal möglich. Aufbauend auf wissenschaftlichen Kompetenzen, bilden die Praxisanleiter die Schnittstelle zwischen Theorie und Praxis. Außerdem investieren Politik und Institutionen durch eine gute Ausbildung, in Fachkräfte, die in der Zukunft, die Pflegequalität in immer anspruchsvolleren Pflegesituationen sichern und gleichzeitig die Patientensicherheit abwenden.
Die gezielte pflegepädagogische Begleitung in jeder Art von Pflegeausbildung und Studium, im Besonderen in der zukunftsorientierten und generalistischen Pflegeausbildung, muss durch Konzepte gesichert und für die Bildungs- und Pflegeeinrichtung zur Selbstverständlichkeit werden. Daher sollte in diesem Bereich ein Hauptaugenmerk bei angestrebten Verbesserungen liegen. Auszubildende und Studierende sollten in der Pflegepraxis als Lernende wahrgenommen werden und nicht im Stellenplan angerechnet werden - nur dann kann gewährleistet werden, dass fehlende Mitarbeiter nicht zu Lasten der Ausbildung kompensiert werden. Die generalistische Pflegeausbildung bietet dafür viele positive Chancen [36].
Im Bereich der akademischen Bildung sehen wir eine wachsende Bedeutung in der Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit, dies kann durch gemeinsame Bildungseinheiten für die Berufsgruppen der Gesundheitsversorgung gelingen [37]. Darüber hinaus in der Spezialisierung von akademisch ausgebildeten Pflegenden im Kontext einer erweiterten Pflegepraxis (Bsp. Advanced Prac-tice Nursing (APN)).


Einarbeitung
Nach der Ausbildung oder bei Wechsel des Arbeitsumfeldes muss eine entsprechende Einarbeitungs-zeit mit angemessenen Einarbeitungsanforderungen zugestanden werden, um die geforderte Qualität zu erreichen. Die Vorkenntnisse als auch individuelle Merkmale des Mitarbeitenden müssen berücksichtigt werden, um dem neuen Mitarbeitenden schon zu Beginn der Beschäftigung Wertschätzung entgegen zu bringen. Professionell Pflegende mit Migrationshintergrund sollen entsprechend gefördert werden, um das geforderte Sprachniveau für die Anerkennung zu erhalten und auch während des Integrationsprozesses begleitet werden. Hier fehlen gegenwärtig angemessene Konzepte in den Einrichtungen.


Wertschätzung und Berufsbild
Ein weiterer großer Faktor, der bei angestrebten Veränderungen Beachtung finden sollte, ist die Wertschätzung von Mitarbeitenden allgemein. Dies schließt sowohl Wertschätzung innerhalb des Teams, als auch im interdisziplinären Umfeld ein. Diese Wertschätzung beinhaltet eine wertschätzende Kommunikation, ebenso wie eine positive Fehlerkultur und eine angemessene Feedbackkultur. Mitarbeitende, die in einem Team spezielle Aufgaben übernehmen (z. B. Praxisanleitung, Hygienebeauftragte, Bachelorabsolvent*innen in der direkten Patientenversorgung), sollten im Team akzeptiert und unterstützt werden. Mit Blick auf die vorhandenen Qualifikationen wurde 2014 angegeben, dass 31,9 % der Befragten ihre vorhandenen Qualifikationen im Arbeitsalltag nur teilweise einsetzen können [38].
Ein positiver Aspekt des Pflegeberufs ist die hohe Durchlässigkeit bei Aufstiegsmöglichkeiten und Weiterqualifizierungen, die auch bei Veränderungsprozessen unbedingt erhalten werden sollten, um den Beruf für alle Bildungsniveaus attraktiv zu gestalten und einen angestrebten Qualifikations-Mix weiterhin zu ermöglichen (vgl. Projekt 360° Pflege, Robert Bosch Stiftung, 2018). Dazu ist die Entwicklung von Konzepten zum Einsatz von unterschiedlich qualifiziertem Personal notwendig, in denen die einzelnen Aufgabenfelder klar abgegrenzt sein müssen. Die von Pflegekräften erbrachten Leistungen müssen von der Berufsgruppe abrechenbar sein, um die Autonomie zu fördern und die Professionali-tät zu steigern. Diese Möglichkeit der Leistungsabrechnung führt außerdem zu einer steigenden Pflegequalität, einer Entlastung der Ärzte*innen und dabei gleichzeitig zu einer Kostenersparnis, da Schnittstellen zur Verordnung von Pflegehilfsmitteln abgeschafft werden können und Versorgungsbrüche vermieden werden.
Eine entsprechende monetäre Entlohnung sollte angestrebt werden, um das Berufsbild nachhaltig zu Verändern und die Motivation der Mitarbeitenden zu erhalten.


Mitsprache
Langfristiges Ziel ist es, dass das Bild des Pflegeberufs aufgewertet wird und auch in gesundheitspoli-tischen Gremien, wie dem gemeinsamen Bundesausschuss (G-BA), Mitbestimmungsrecht bekommt. Der Deutsche Berufsverband für Pflegeberufe (DBfK) und die Bundesarbeitsgruppe Junge Pflege sprechen sich für die Bildung der Pflegeberufekammern auf Länderebene sowie eine Bundespflegeberufekammer aus [39].


Entwicklung neuer und erweiterter pflegerischer Handlungsfelder
Die Berufsgruppe der Pflege ist die größte im Gesundheitswesen. Neben den bekannten und her-kömmlichen Einsatzgebieten entwickeln sich auch neue pflegerische Handlungsfelder. Dazu gehört z.B. die Schulgesundheitspflege, also der Einsatz von School Nurses. Gerade für Schüler*innen mit chronischen Krankheiten eine riesige Unterstützung, aber auch als allgemeine Ansprechpartner für alle Fragen rund um die Gesundheit [40]. Weiterhin kann die Entwicklung des Community Health Nursings und Family Health Nursing der in vielen Regionen ausgedünnten medizinischen Versorgung entgegenwirken. Hausarztpraxen werden geschlossen, weil sich keine Nachfolger finden. Daher empfiehlt sich der Blick ins Ausland, z. B. Skan-dinavien. Dort gibt es speziell qualifiziertes Pflegepersonal, diese sogenannten Community Health Nurses, die mittlerweile die Erstversorgung übernehmen [41]. Für das deutsche System ist das nichts Neues [42]. Die Aufgabengebiete der Community Health Nurses ähneln denen der damaligen Gemeindeschwester in der DDR, die ein permanentes Beratungsangebot für ältere und unterstützungsbe-dürftige Menschen zu Hause stellte. Bereits im Jahr 2006 wurde mit dem Projekt AGnES (Arztentlastende, Gemeindenahe, E-Health gestützte, systemische Intervention) der Universität Greifswald an dieses Konzept angeknüpft und das Ziel verfolgt, neue, versorgungsübergreifende Aufgabenfelder der Pflege zu ergründen [43 ]. Weiterentwickelte Beispiele, wie die Familiengesundheitspflege, greifen diesen Ansatz aus und erweitern ihn im Sinne eines substituierenden Ansatzes [44]. Darüber hinaus gibt es noch die betriebliche Gesundheitspflege (Occupational Health Nursing). Speziell qualifizierte Pfle-gefachpersonen übernehmen in diesem Konzept Aufgaben zum Gesundheitsschutz, der Gesundheits-förderung und Prävention in Betrieben. Sie unterstützen Mitarbeitende bei der Alltagsbewältigung mit chronischen Krankheiten oder bieten Hilfestellung, wenn ältere Familienangehörige pflegebedürftig werden [45]. Eine Anbindung an das heute so gefragte und ausgebaute Angebot des betrieblichen Gesundheitsmanagements wäre denkbar.


Wir fordern:

  • Die Neujustierung der gesellschaftlichen Rolle von Pflege- und Therapieberufen auf der Grundlage veränderter Arbeitsbedingungen, durch die die Qualität der Pflege wieder in den Fokus rückt und die Wertschätzung gegenüber den Pflegenden sichtbar wird.
  • Eine verbesserte Ausbildungsqualität durch wissenschaftlich fundierte Praxisanleitungen, mehr Gestaltungsräume für angehende Pflegekräfte; curricular verankerte interprofessionelle Lehrangebote sowie flächendeckende durchlässige Aufstiegschancen auch im Bereich der akademischen Entwicklung, um neue Handlungsfelder aktiv mit entwickeln und kompetent ausführen zu können [46].

35 vgl. Studie: Angestellte im Krankenhaus, https://www.bgw-online.de, 2018

36 https://www.dbfk.de/de/presse/meldungen/2016/Pflegeberufereform-ist-vor-allem-zweierlei-laengst-ueberfaellig-und-eine-grosse-Chance.php und https://www.dbfk.de/media/docs/download/Allgemein/DBfK-Inforeihe-Pflegeberufegesetz.pdf
37 http://www.nln.org/docs/default-source/default-document-library/interprofessional-education-and-collaborative-practice-toolkit1.pdf und Pflegeausbildung vernetzend gestalten: http://bildungsrat-pflege.de/wp-content/uploads/2014/10/broschuere-Pflegeausbildung-vernetzend-gestalten.pdf http://www.biomed-austria.at/fachartikel/Interprofessionelle%20Zusammenarbeit%20S.24-26.pdf
38 vgl. Arbeitsreport Krankenhaus, Hans-Böckler-Stiftung, 2014, S 31

39 https://www.dbfk.de/de/themen/Pflegekammer.php
40 https://www.dbfk.de/media/docs/download/Allgemein/Schulgesundheitspflege_2014-12-11.pdf
41 https://www.dbfk.de/media/docs/Bundesverband/CHN-Veroeffentlichung/chn_broschuere_kurz.pdf; https://www.dbfk.de/de/themen/Familiengesundheitspflege.php
42 Verschiedene weitere Projekte, wie das 2018 beendete Projekt „Gemeindeschwester Plus“ in Rheinland-Pfalz wurden seitdem ins Leben gerufen – eine Überführung in Regelstrukturen der Versorgung bleibt ausstehend“ (Quelle: https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/95220/Projekt-Gemeindeschwester-Plus-steht-in-Rheinland-Pfalz-vor-Abschluss)
43 https://www.aerzteblatt.de/archiv/53297/Gemeindeschwestern-Geheimwaffe-gegen-Ueberlastung-und-Unterversorgung44 https://www.dbfk.de/de/themen/Familiengesundheitspflege.php
45 https://www.dbfk.de/media/docs/download/DBfK-Positionen/Position-betriebl-Gesundheitspflege-2014-10.pdf
46 http://www.junge-pflege.de/bundesverband/unsere-projekte/

4.4 Akademisierung Pflege und Gesundheitsberufe

EIN KAPITEL DER DENKSCHMIEDE GESUNDHEIT


Die nationalen Bildungs- und Gesundheitssysteme sind gefordert, die Überprüfung und Entwicklung der vorzufindenden Bildungsstrukturen des Gesundheitswesens mit den Bedürfnissen der Versorgungslandschaft zu reflektierten und entsprechend so zu gestalten, wie es u.a. der „Lancet-Report“ oder das „Memorandum der Robert-Bosch-Stiftung“ bereits vor einigen Jahren gefordert haben [47]. In Deutschland erweist sich die Initiierung und Entwicklung dieses Gestaltungsprozesses jedoch als schwierig; denn anders als in den meisten europäischen Ländern, in denen die Ausbildung der Gesundheitsfachberufe weitgehend in regulären Bildungsstrukturen verortet ist, ist sie in Deutschland weder auf der Grundlage des Berufsbildungsgesetzes des dualen Systems zuzuordnen, noch gehört sie einheitlich in den Bundesländern zum Schulberufssystem [48]. Die strukturelle Abbildung dual erworbener Abschlüsse im konkreten Arbeitsalltag der Pflege- und Gesundheitsfachberufe erweist sich aus diesem Grund als äußert schwierig – wäre jedoch aus unserer Sicht zu empfehlen, um akademische Potentiale im Arbeitsalltag zu verankern. Der Hochschulsektor hingegen bietet z. B. die Möglichkeit der Akkreditierung der Bildungsgänge, die zur Einhaltung definierter Mindeststandards und Transparenz der Bildungsangebote der Institutionen beitragen kann [49]. In Deutschland wird seit Jahrzehnten eine Debatte um die Akademisierung geführt, die mit der Einführung der Modellklausel [50] im Jahr 2009 einherging und deren Überführung in grundständige Hochschulstrukturen noch aussteht [51]. Neben der internationalen Studienlage, wie z. B. zur Reduzierung der Mortalitätsrate bei steigendem Anteil an Bachelor-Qualifizierten [52], zeigen vor allem die Ergebnisse der Evaluation der Modellklausel in Deutschland positive Effekte und Perspektiven der hochschulischen therapeutischen Ausbildung und geben Hinweise auf die Potentiale wissenschaftlicher Fundierung von Pflegekräften und Therapeut*innen [53]. Eine Anhörung im deutschen Bundestag ist - trotz der verbindlichen Regelung zum Dezember 2017 – bis heute nicht erfolgt.


Fachkräftesicherung im Pflege- und Therapiebereich
Das erklärte politische Ziel bei der Gestaltung der Bildungsprozesse in der Gesundheitswelt ist neben der verbesserten Versorgung von Patienten auch die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit der Ausbildung im europäischen Vergleich, die Förderung der europaweiten Mobilität deutscher Berufsangehöriger und vor allem die Fachkräftesicherung in der Pflege- und Therapiebranche. Aus der Sicht der Bundesregierung ist jedoch nicht nur die Anerkennung des Berufs in der EU maßgebend, sondern auch die Sicherung bzw. Steigerung der Qualität, die sich durch die Anhebung der beruflichen Qualifikation ergeben kann36. Der Wissenschaftsrat (WR) forderte in diesem Kontext bereits im Jahr 2012 in seinen Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen, dass die ge-wachsene Komplexität vermehrt sogenannte „reflective practitioners“ erfordert [54].


Attraktivitätssteigerung der Gesundheitsberufe
Gerade für junge Erwachsene, die sich für die Pflege- und Therapieberufe entscheiden, können neue Karrierewege attraktive Optionen bieten. Neben heilkundlichen Direkttätigkeiten, z. B. zur Versorgung von Menschen mit Demenz oder zum Wundmanagement, könnten durchlässige akademische Bildungswege verstärkt reflektierende, kritisch-prüfende und hinterfragenden Kompetenzen aufgreifen und so auch neue Inhalte und Lösungswege, an dem die jungen Menschen partizipieren und eine gesteigerte Attraktivität der Berufe wahrnehmen und langfristig ausbauen. Auch Themen wie Digitalisierung, technische Assistenzsysteme etc. müssen verstärkt innerhalb der Pflege- und Gesundheitsberufe abgebildet werden und konkrete Integrationsmöglichkeiten aufzeigen, um den Herausforderungen mit jungen Kräften gestalten zu können.


Wir fordern:

  • Die Schaffung von strukturellen Voraussetzungen zum Einsatz von Pflegenden mit einem Bachelor- und Masterabschluss sowie eine klare Definition von Aufgaben- und Tätigkeitsfeldern in der akutklinischen, langzeitpflegerischen und ambulanten Pflege.
  • Finanzielle Förderung der Errichtung von flächendeckenden Pflegedepartments an deutschen Universitäten. Sowie die Stärkung und den Ausbau von pflegewissenschaftlichen Forschungseinrichtungen.
  • Stärkung von Pflegeforschung und der Dissemination von Forschungsergebnissen in die Pflegepraxis.

47 Sottas, B., Kickbusch, I. (2010). Übersetzung Careum. Eine neue globale Initiative zur Reform der Ausbildung von Gesund-heitsfachleuten. Original: Lancet (2010): Education of Health Professionals for the 21st Century. Zürich
48 Kraus, K., Müller, S., Gonon, P. (2004). Gesundheitsberufe in der Grenzregion. Eine international-vergleichende Regional-studie zur beruflichen Bildung. Frankfurt a.M.: Verlag für interkulturelle Kommunikation. In: GesinE (2014). Bestandsauf-nahme der Ausbildung in den Gesundheitsfachberufen im europäischen Vergleich. Band 15 der Reihe Berufsbildungsfor-schung. Bundesministerium für Bildung und Forschung. Berlin. http://www.bmbf.de/pub/berufsbildungsforschung_band_15.pdf [Stand: 19.06.2016]

49 Kälble, K. (2006): Gesundheitsfachberufe unter Modernisierungsdruck – Akademisierung. Professionalisierung und neue Entwicklungen durch Studienreform und Bologna-Prozess. In: Pundt, J.: Professionalisierung im Gesundheitswesen. Positio-nen – Potentiale – Perspektiven. Bern: Hans Huber
50 Die Modellklausel sieht ein zeitlich befristetes Abweichen der Gesetzesvorgabe sowie Ausbildungs- und Prüfungsordnun-gen vor und ermöglicht die parallele akademische Ausbildung in den therapeutischen Gesundheitsfachberufen. Den Län-dern wird eine modellhafte Einführung von Studiengängen an Fachhochschulen/Universitäten ermöglicht. Das BMG sollte bis 2017 über die Ergebnisse der Modellvorhaben berichten, dies ist jedoch nicht geschehen (Deutscher Bundestag, 2009).
51 Scharff Rethfeld, W., Heinzelmann, B. (2013). Vergleich europäischer Standards und der deutschen Ausbildungssituation zur Primärqualifikation. Forum Logopädie Heft 1 (27) Januar 2013, S. 22-25. Idstein: Schulz-Kirchner Verlag
52 Aiken, L.H., Sloane, D.M., Buyneel, L., Van den Heede, K., Griffiths, P., Busse, R., Diomidous, M., Kinnunen, J., Lesaffre, E., McHugh, M.D., Moreno-Casbas, M.T., Rafferty, A.M., Schwendimann, R., Scott, P.A., Tishelman, C., van Achterberg, T., Sermeus, W. RN4CAST consortium. Nurse staffing and education and hospital mortality in nine Euorpean countries: a retro-spective observational study. Lancet 2014; 383:1824-30
53 Darmann-Fink, I., Reuschenbach, B. (2015). Inhaltliche und strukturelle Evaluation der Modellstudiengänge zur Weiter-entwicklung der Pflege- und Gesundheitsfachberufe in NRW. Was bringt die hochschulische Ausbildung? 29. Mai 2015, Landesvertretung NRW Berlin
54 Wissenschaftsrat (2012). Empfehlungen zu hochschulischen Qualifikationen für das Gesundheitswesen. Berlin

5. Starke Partner mit vielen jungen Köpfen

Die jungen Partner, die sich für dieses Papier zusammengeschlossen haben, sind verschieden ausgerichtet.

 

Die Stiftung für die Rechte zukünftiger Generationen (SRzG) wurde 1997 von einem überparteilichen Zusammenschluss fünf junger Menschen gegründet. Sie wird von einem der jüngsten Stiftungsvorstände Deutschlands geleitet und kämpft seitdem für Generationengerechtigkeit und Nachhaltigkeit in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft. Mit dem regelmäßigen Verfassen von Positionspapieren und der Teilnahme an medialen oder politischen Gesprächsrunden wird jedes Thema auf Generationengerechtigkeit gegengeprüft und dahingehend diskutiert. Auch die Denkschmiede Gesundheit sieht sich seit ihrer Gründung 2016 als Interessenvertreterin der jungen Generation und setzt sich für eine zukunftsfähige und generationengerechte Gesundheitspolitik ein. Ihre Mitglieder stam-men aus allen Bereichen des Gesundheitswesens, sie arbeiten bei Kostenträgern, als Leistungserbringer*innen, als Berater*innen oder Innovationstreiber*innen, sind E-Health-Expert*innen oder sie forschen oder studieren an Universitäten. Es verbindet sie eine Motivation: Der gesundheitspolitische Einsatz für ein System, das unseren Nachkommen die beste und nachhaltigste Gesundheitsversorgung der Welt sichern kann.

 

Die Junge Pflege Nordwest, Nordost, Südwest und Südost formiert sich zum übergeordneten Bundesverband Junge Pflege und bezieht damit ihre jungen Pflegenden aller Bundesländer regelhaft ein. Das macht sie zur größten Interessensvertretung für Beschäftigte der Alten-, Gesundheits- und (Kinder-) Krankenpflege in Deutschland. Ihr Engagement für die Ideen und Bedürfnisse der zukünftigen professionellen Pflege ist in Fachkreisen bekannt und geschätzt. Die regelmäßigen Treffen sind dabei nur die Basisarbeit. Die Interaktion mit der Öffentlichkeit findet vor allem auf eigens organisierten und durchgeführten Junge-Pflege-Kongressen statt. Sie beschreiben, dass in vielen Bereichen der Pflege und Pflegebildung dringender Veränderungsbedarf besteht und erarbeiten gezielt Lösungsansätze. Dabei handelt es sich um Impulse, Warnrufe sowie Forderungen, gerichtet an die Akteure im Gesundheitswesen und Politik.

 

Die Bundesvertretung der Medizinstudierenden in Deutschland e.V. (bvmd) vertritt die über 93.000 Medizinstudierenden der 38 deutschen medizinischen Fakultäten. In verschiedenen Arbeitsgruppen organisiert und koordiniert sie zahlreiche Projekte von Studierenden und ist für den internationalen Austausch von über 400 Medizinstudierenden pro Jahr zuständig. Die Mitglieder aus den verschiedenen Fakultäten kommen dreimal im Jahr auf Mitgliederversammlungen zusammen, bei denen sie gemeinsam Positionen zur Gesundheitspolitik, zu Public Health, medizinischer Ausbildung und darüberhinausgehenden aktuellen und wichtigen Thematiken beschließen.


Blaupause – Initiative für mentale Gesundheit im Gesundheitswesen e.V. ist ein 2018 gegründeter Verein, der sich dafür einsetzt, dass das Thema psychische Gesundheit gerade auch am “Arbeitsplatz“ Gesundheitswesen ernst genommen und gefördert wird. Studien zeigen, dass Ärzt*innen, Medizinstudierende, Pflegende, Therapeut*innen aller Art, etc. besonders häufig von psychischen Erkrankungen betroffen sind – sich aber auch vergleichsweise selten Hilfe holen. Neben Fragen danach, wie den Helfer*innen mit niederschwelligen Angeboten geholfen werden kann, ist es Blaupause ein Anliegen, die Entstigmatisierung psychischer Erkrankungen voranzutreiben. Deutschlandweit finden sich dafür engagierte junge Menschen in Lokalgruppen zusammen, streuen Informations- und Aufklärungskampagnen insbesondere über die sozialen Medien und bieten ein Online-Forum für den Austausch von Betroffenen und Angehörigen zu Themen wie Erfahrungen, Therapien und Achtsamkeit.


Weitere Literaturverweise

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